18.11.2011

La Peur - Die Angst

Betrachten wir die Geschichte der Kriege, dann stellen wir fest, dass der 1. Weltkrieg eine Zäsur ohnegleichen darstellt: Wurde der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 noch traditionell „Mann-gegen-Mann“ geführt, mit langen Reihen gewehrbewaffneter Soldaten, die auf einem Schlachtfeld auf die andere Seite schießen oder dies mit Kanonen erledigten, die sie nach jedem Schuss neu laden mussten, war der darauffolgende Krieg ein hochtechnisierter Konflikt. Flugzeuge waren dabei, gigantische Geschütze, die kilometerweit feuern konnten und zum Schluss sogar Panzer. Mittendrin: Der Mensch, der gemeine Soldat.
1914 wurde der aufkommende Krieg von beiden Seiten, Deutschland wie Frankreich, begeistert begrüßt; viele Männer meldeten sich freiwillig, hörten sie doch vom letzten Krieg wahrhaft heroische Geschichten, die spannende Abenteuer versprachen. An der Front jedoch wich die Abenteuerlust dem blanken Entsetzen: Hier wurden sämtliche Spielregeln, sämtliche grundlegenden Verhaltensregeln, die zwischen Menschen auch in bewaffneten Konflikten galten, außer Kraft gesetzt; die Soldaten, unabhängig von der Nationalität, wurden durch Granatenbeschuss, Gasangriffen und Maschinengewehrfeuer ermüdet, zermürbt, zerfetzt.
Nach diesem Krieg kamen eine Vielzahl literarischer Veröffentlichungen auf den Markt, die die Eindrücke des 1. Weltkriegs zu verarbeiten suchten: Hemingways „In einem andern Land“ zum Beispiel verarbeitet die Kriegserlebnisse des Autors eigentümlich technisch, männlich, wenig ängstlich. Anders jedoch Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“: Hier wird der gemeine Soldat in den Mittelpunkt gestellt, mit all seinen Entbehrungen, Ängsten, mit all  seinem (ständigen) Hunger. Der Krieg wird so dargestellt, wie er ist: Barbarisch, ekelhaft, schmutzig in allen Belangen. Diese Erlebnisse lassen die traumatisierten Soldaten nicht los, sie finden sich nicht mehr in der Gesellschaft zurecht, der ersehnte Fronturlaub wird zu einem weiteren Trauma. Die entwurzelten Frontkämpfer können auch nach Kriegsende nicht in die Gesellschaft zurückfinden; die meisten scheitern, was in Remarques Nachfolgeroman „Der Weg zurück“ eindrucksvoll beschrieben ist.
Die französische Literatur ihrerseits bietet mit dem überaus beeindruckenden und bedrückenden Roman „Heldenangst“ von Gabriel Chevallier einen tiefen Einblick in die Erlebniswelt eines französischen Soldaten. Der gerade einmal achtzehn Jahre alte Hauptprotagonist, „Dartemont“ genannt, berichtet hier in aller Deutlichkeit von seinen grauenvollen Fronterlebnissen.
1914 also: Krieg. Deutschland ruft „Hurra, auf nach Paris!“, Frankreich erwidert „Hurra, nächster Halt: Berlin!“ Freudige Erregung überall; Dartemont ist neugierig, er meldet sich freiwillig: Er hat nichts gegen die Deutschen, er kennt nicht mal welche, er will sich das nur mal ansehen: Krieg. Als er ihn dann sieht, ist er entsetzt: Überall Explosionen, Schüsse, tote Menschen, zerfetzte Körper, der Geruch des Todes weht permanent über die Schlachtfelder. Aufgewühlte, wie von gigantischen Pflügen umgewälzte Erde, Stacheldrahtverhaue, Gräben, Schlamm, Blut, Leichen, Leichen, Leichen und dazwischen: Die einfachen Soldaten, hunderttausendfach, millionenfach, dazu bestimmt, verheizt zu werden, während die Entscheidungsträger in sicherer Entfernung ihren Wein aus sauberen Kristallgläsern schlürfen. An der Front geht jede Menschlichkeit zugrunde, jeder Soldat hofft auf eine gravierende Verletzung, damit er diesem absoluten Elend entkommt, Verstümmelungen werden in Kauf genommen, nur weg, weg, weg: Herzlichen Glückwunsch zum Verlust Deines Beines!
Die Grenzen verschwimmen; fast scheint es so, dass der Gegner nur eine abstrakte, amorphe Größe ist: Die wenigen direkten Kontakte mit deutschen Soldaten zeigen, dass diese Menschen genauso schlecht dran sind, genauso leiden, genauso als Kanonenfutter dienen.
Was den Roman jedoch besonders macht, ist die eindringliche Schilderung der permanenten Angst: Die gebeutelten Soldaten gewöhnen sich nicht daran, mit dem Bajonett auf offenem Feld  unter Maschinengewehrbeschuss zum Gegner zu rennen, um unter massiven Verlusten 50 Meter Frontabschnitt zu gewinnen. Sie gewöhnen sich nicht an die ständige Gefahr, von Granaten getroffen zu werden; und sie gewöhnen sich auch nicht daran, andauernd in der Gefahr zu schweben, bis über die Knöchel in Fleisch, Menschenfleisch zu stehen, von tumben Vorgesetzten in unsinnige, tödliche Missionen geschickt zu werden. Die ständige Angst ist förmlich greifbar, auf jeder Seite: Das französische Original des Romans trägt demnach auch einfach den Titel „La Peur“ – Die Angst.

Aha?

Solche realistischen Schilderungen kamen bei den Herrschenden natürlich nicht gut an: 1930 erstmals erschienen, wurde der Roman 1939 wieder vom Markt genommen – um die Moral nicht zu untergraben? Um die Soldaten nicht auf falsche Gedanken kommen zu lassen? "Im Westen nichts Neues“, gewissermaßen das deutsche Pendant, wurde aus diesem Grunde sogar verboten.
Die Neuauflage von 2008, im Deutschen 2010, hat nichts eingebüßt von ihrer Aktualität: Krieg ist noch immer unmenschlich, albern, dumm. Noch immer wird über den Krieg geredet wie von einem Ausflug mit Verletzungsgefahr.  Momentan wird die Diskussion geführt: Iran angreifen oder nicht? Und es wird der Krieg erneut, wie schon vor fast 100 Jahren, als technisches Ereignis gesehen: Dabei werden auch bei diesem „sterilen Technoevent“ Menschen zerfleddert im Sand liegen, zerschossen, zerfetzt; mit aufgerissenen Bäuchen schauen sie verwundert auf ihren 12-Fingerdarm, lassen sie Familien zurück, die ihren Ehemann, Vater und Ernährer verloren haben, auch dieses Ereignis wird unendliches Leid über völlig unschuldige Menschen regnen lassen, die eigentlich nur leben wollten wie alle anderen Menschen auch;  Trauma, Hass, Rache: Und der ganze Mist beginnt von vorn.
Also, Herr Ahmadinedschad, Frau Merkel, M. Sarkozy,  Mr. Friedensnobelpreisträger Obama: Vor dem „entschlossenen Eingreifen“, vor dem „In-die-Steinzeit-bomben“ hilft es vielleicht, ein Buch zu lesen - zum Beispiel dieses:
Gabriel Chevallier: Heldenangst, Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2010, 24,90 Euro.

2 Kommentare:

  1. Die Darstellung ist leider nicht ganz korrekt. Der Deutsch-Französische Krieg war durchaus schon ein Vorbote von 1914, es gab brutale Häuserkämpfe, z.T. auch Grabenkämpfe. Das klassische "Mann gegen Mann", wie man es aus dem 18. Jahrhundert noch kannte, war hier schon deutlich abgelöst, ähnlich wie schon wenige Jahre zuvor im Amerikanischen Bürgerkrieg, der vielfach von Stellungs- und Grabenkämpfen gekennzeichnet war und deshalb auch in der Geschichtswissenschaft als einer oder der erste 'moderne' Krieg betrachtet wird, da sich alte Kriegstaktiken oft als unbrauchbar erwiesen.
    Ebenfalls war die 'Überraschung' 1914 über den neuen Kriegsverlauf nicht ganz so groß, der Großteil der Generalität beider Seiten wusste über die Macht der neuen Waffen(systeme), sie hatten dies wenige Jahre zuvor im Russisch-Japanischen Krieg beobachten können, in dem es großflächig zum Grabenkrieg mit MG-Stellungen, Stacheldraht etc. gekommen war.

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  2. Werter Kommentator,
    das ist doch mal ein Kommentar! Ich freue mich wirklich sehr darüber, zumal ich diese Fakten teilweise tatsächlich nicht kannte. Was weiß ich schon von Kriegen...
    Also, liebe Leserin, liebe Leser: Falls ich mal wieder mit Nicht- oder Halbwissen glänze oder schlichtweg Mist schreibe: Bescheid sagen.
    Danke!
    Umgekehrt, also wenn es mal gut war, wird ein Kommentar natürlich auch sehr gern genommen.

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