22.07.2011

Nachts im Zug nach Portugal

Ein Lehrer in irgendeiner schweizerischen Kleinstadt will zur Arbeit gehen. Da sieht er eine Frau am Geländer einer Brücke stehen; sie ist nass, es regnet, und er hat den Eindruck, dass sie von ebenjener Brücke springen möchte.

Das wiederum möchte er nicht und er nimmt sich nicht nur ihrer an, sondern auch mit in die Schule, in der er arbeitet. Auf die Frage, welche Sprache sie spreche, antwortet sie „Português“; dieses dahingehauchte Wort der durchnässten Dame fasziniert, elektrisiert ihn, er geht völlig neben sich stehend in den Unterricht.

Das bemerken auch die wartenden Schüler: Er, der stets korrekte Lehrer, er, der ihnen seit jeher hebräisch, altgriechisch und Latein zu vermitteln versucht, der allein für diese Sprachen lebt, er, der demnach ein unglaublich langweiliger alter Arschbacken sein muss, ist also neben der Spur. Das bemerkt anscheinend selbst die triefende Frau, wahrscheinlich denkt sie sich `mein Gott, was mach ich hier´ oder `dann hätte ich auch springen können, so tödlich langweilig ist der Typ da´ oder was weiß ich, auf jeden Fall verflüchtigt sich die holde Nassheit. Der Lehrer, der tatsächlich auch noch den unglaublich aufregenden Namen „Gregorius“ trägt und von den Schülern nur „Mundus“, der Mund, genannt wird, weil er so unglaublich viel weiß über Sprache, ist also nicht bei der Sache. Und dann passiert etwas, womit weder Leser noch Schüler gerechnet hat:

Er geht.

Nimmt seinen Mantel vom Haken, lässt sogar seine ach so geliebten Bücher zurück – und geht. Und wohin verschlägt es einen richtigen Mann, wenn er alles hinter sich lässt, seine spannende Arbeit, seine nicht vorhandene Familie, seinen einzigen Freund? Natürlich: Ins Antiquariat. Das ist ja wohl mal klar, nur Weicheier gehen danach erstmal in die erstbeste Kneipe einen saufen oder in den Puff oder ins nächste Stahlwerk, um dort Eisen zu biegen; denn richtig harte Männer zieht es nur dorthin, wo emsige Verkäufer gebrauchte Bücher feilbieten. Dort lungert er also ein wenig herum, bis seine Aufmerksamkeit auf ein portugiesisches Buch fällt. Ausgerechnet. Der geneigte Buchhändler übersetzt ihm die ersten Sätze, der öde Lehrer staunt: DAS ist ja mal was, das habe ich ja noch nie gehört – wer hat das wohl geschrieben. Nun, wie sich dann rausstellt, war es ein – Portugiese.

Unser werter Gelehrter kauft das Buch, zu Hause müht er sich ab, mittels seiner schier unglaublichen Lateinkenntnisse das Buch zu übersetzen; es gelingt ihm. Demnach war der Autor ein emsiger Arzt aus Lissabon, der zugleich ein talentierter Wortjongleur war. Seine für den faden Gregorius schier malerisch schönen und sinnerfüllten Texte lassen in dem vernunftummantelten Pauker nicht nur den Wunsch entstehen, diesen bereits verstorbenen Autoren näher kennenzulernen, sondern auch, der schönen Stadt Lissabon einen Besuch abzustatten.



Was er dann auch tut. Wenig später sitzt er im Nachtzug nach Lissabon. Dort angekommen, geht er auf Spurensuche, findet viele Personen, die den eifrigen Arzt kannten und die ihm mit getragenen Worten ihre unendliche Bewunderung für diesen Doktor ausdrücken. Das ganze Buch lang: nur Bewunderung. Hat der Arzt doch –und das ehrt ihn- einmal eine gewiss nicht einfache Entscheidung getroffen: Als nämlich eines Tages während der Salazar-Diktatur ein übler Folterscherge malade vor seiner Tür liegt, fackelt der ehrbare Doktor nicht lange, erfüllt seinen hippokratischen Eid und rettet dem bösen Scheusal das Leben. Fortan wird der bislang heiß und innig geliebte Arzt von den einfältigen Menschen geschnitten; das macht ihn krank und verbittert, das nagt an ihm ein Leben lang – bis zum Tod.

Und so bewegt sich unser wackerer Gregorius durch Lissabon, findet neben den verstreuten Lebensfragmenten dieses Ganzgottes in Strahleweiß auch noch völlig neue Seiten seines eigenen Lebens. So kauft er sich nicht nur einen neuen Anzug (welch Aufruhr), sondern auch eine neue Brille (revolutionär). Seine alte, schwere Glasbausteinbrille hat erst einmal ausgedient, vorbei die Zeit, in der rechtschaffene Häuslebesitzer ihm vorschnell eins überbrieten, weil sie dachten, er hätte sie beklaut; die Brille: Symbol des Aufbruchs zu neuen Ufern, zu einem spannenden Leben, jahaa!, nix mehr mit „öder Mundus“ und langweiliger Arschbackerei, jetzt geht´s rund hier! Das zeigt exemplarisch folgendes Zitat:

„Gregorius las die Schöpfungsgeschichte. Er, Mundus, las in einem verfallenen portugiesischen Gymnasium einer achtzigjährigen Frau, die er gestern noch nicht gekannt hatte und die kein Wort Hebräisch konnte, die Schöpfungsgeschichte vor. Es war das Verrückteste, was er jemals getan hatte.“


Also: Wenn das tatsächlich das Verrückteste war, was er jemals getan hat, ja dann Gute Nacht. Dann ist dieser maue Fadmann noch langweiliger als langweilig. Und so fade wie dieser langweilige Schachspieler (ohgott das auch noch) endet auch das Buch: kein Paukenschlag, kein überraschendes Ende, sondern einfach nur unbefriedigend und muffig und wirklich unglaublich selbstgefällig. Und wenn schon „Ein fesselndes Abenteuer. Ein wunderbarer Roman. DER SPIEGEL“ auf dem Buchdeckel prangt, dann müsste man eigentlich schon gewarnt sein…

Ein Freund von mir war jedoch wirklich begeistert von diesem Buch; er verglich dieses Buch sogar mit einem französischen Film: 90 Minuten passiert nichts, das aber auf unterhaltsame Weise. Wenn dieses Buch aber wirklich einem französischen Dessert gleichen soll, so muss ich das aus meiner Sichtweise verneinen.

Für mich ist das nicht Mousse au chocolat, sondern einfach nur fade schweizerische Grütze.

Doch jedem ist es unbenommen, sich selbst ein Urteil zu erlauben:
Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, btb-Verlag, 9,50 €.

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